Vom Liebespfand zum Leibgericht

Wer in Valeggio sul Mincio versucht den Tortellini aus dem Weg zu gehen, wird sich damit nicht nur schwer tun, sondern sich auch um einen kulinarischen Hochgenuss bringen. Mit zehn „Pastifici“, Teigwarengeschäfte mit eigener Nudelherstellung, ist in Valeggio sul Mincio die Dichte an handwerklichen Pastaherstellern, die ihre Produkte im eigenen Laden verkaufen, selbst für italienische Verhältnisse groß. Bekannt ist die knapp 15.000 Einwohner große Gemeinde, die südwestlich von Verona im Hinterland des Gardasees liegt, vor allem für ihre Tortellini. Diese „Nodo d’amore“ – auf Deutsch  Liebesknoten – wie die Tortellini aus Valeggio sul Mincio genannt werden, bestehen aus einem seidendünnen Teig mit jahreszeitenabhängig wechselnder Füllung und haben als Ursprungslegende die Liebe zwischen einem Sterblichen und einer Nymphe.

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Der Legende nach sollen im 14. Jahrhundert, als der Mailänder Feldherr Gaingaleazzo Visconti an den Ufern des Flusses Mincio gegen die Mantuaner kämpfte, des nachts Nymphen aus dem Fluss gekommen sein, um am Ufer zu tanzen. Weil die Nymphen mit einem Fluch belegt waren, mussten sie die Gestalt hässlicher Hexen annehmen. Ein Hauptmann folgte einer der Tanzenden und entdeckte die wunderschöne Nymphe, die hinter der hässlichen Hexengestalt verborgen war. Es kam wie es kommen musste, der Hauptmann verliebte sich unsterblich und folgte, nach einigen Intrigen, seiner Angebeteten schließlich in die Wasserwelt. Mit im Spiel: Ein geknotetes, goldenes Seidentaschentuch als Liebespfand, das am Ufer des Mincio zurückblieb.  Während die tanzenden Nymphen in die Welt der Legenden gehören, sind die Liebesknoten genannten Tortellini ein ganz reales Genussprodukt. Ein lecker gefüllter Teig, der so fein ausgerollt wird, dass er an die Seide des Nymphentaschentuchs erinnert. Den Namen Liebesknoten tragen die Tortellini aus Valeggio, weil ihre Form, der des geknoteten Taschentuchs entspricht. Für die Verkostung der „Nodo d’amore“ lohnt sich der Weg nach Valeggio sul Mincio auf jeden Fall.

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„Wir sind mit den Tortellini auf die Welt gekommen“, antwortet Mariella Zara, die gemeinsam mit ihrem Mann Gianni Veronesi das historische Restaurant Bue d’Oro in Valeggio betreibt, auf die Frage, welche Bedeutung die Tortellini für sie hätten. Das 1927 von Mariellas Großmutter, Caterina Zara, als Osteria gegründete Bue d’Oro gehörte in Valeggio zu den Restaurants der ersten Stunde. Im Februar dieses Jahres hat es, nach einem Brand und mehreren Umbauten, in neuem Outfit wieder eröffnet. Hell und minimalistisch, mit einer verglasten Küche, so dass man Chefkoch Matteo Bisceglia bei der Arbeit zusehen kann, bezaubert das Bue d’Oro einerseits durch die angenehm, lichte Atmosphäre mit viel Glas andererseits durch die ausgezeichnete Pasta, die serviert wird. Darunter selbstverständlich auch die „Nodo d’amore“ für die Valeggio sul Mincio so bekannt ist. Die haben, wie es sich für die Tortellini aus Valeggio gehört, natürlich einen hauchdünn ausgerollten, nur zwei bis drei Millimeter starken Teig und sind in der klassischen Version mit einer Paste aus Rind-, Schweine- und Hühnerfleisch, vermengt mit Grana Padano, gefüllt und werden in Salbeibutter geschwenkt.

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Pasta herstellen ist in Valeggio sul Mincio vor allem eines: Handarbeit. Das Pastificio „Al Castello“ ist einer der Pastahersteller, in Valeggio. In einer vergleichsweise kleinen Küche hinter dem Verkaufsraum, in dem eine reichhaltigen Auswahl an hausgemachter Pasta erworben werden kann, stehen die Frauen und knoten den hauchdünnen Teig zu den Liebesknoten genannten Tortellini. Acht bis zehn Eier, je nachdem wie intensiv das Gelb des Teiges vom Kunden gewünscht wird, kommen auf ein Kilogramm Mehl. Der millimeterdünne Teig ist zu rechteckigen Platten ausgewalzt. Diese wiederum sind mit dem Teigrädchen in kleine Rechtecke geschnitten. Die Ränder haben die klassische, gezackte Form. In die Mitte jedes kleinen Rechtecks kommt ein Klecks Füllung. Am einen Arbeitstisch ist es die klassische Fleischmischung, am anderen werden Tortellini heute mit Ricottacreme gefüllt.

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Auf die Frage, wie denn so ganz ohne Waage die immer gleiche Menge an Füllung in die Tortellini kommt, heißt es nur lapidar: „Le donne hanno la misura nel dito“, was sinngemäß damit übersetzt werden könnte, dass den Tortellinifrauen die Füllmenge in Fleisch und Blut übergegangen ist. Gleiches scheint für die Falttechnik zu gelten. Wofür ein Laie wahrscheinlich etliche, verunglückte Versuche bräuchte, läuft im Pastificio wie von alleine. Vier drahtbespannte Tabletts, jedes mit rund einem Kilo Tortellini belegt, schaffen die Frauen pro Stunde.

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Einmal im Jahr können im malerischen Ortsteil Borghetto die Liebesknoten dort verspeist werden, wo sie der Legende nach, ihren Ursprung haben sollen. Auf einer Brücke hoch über dem Fluss Mincio, wo seinerzeit der von der Nymphe bezirzte Hauptmann kämpfte. Seit 1993 werden an jedem dritten Dienstag im Juni, 2016 ist das der 21. Juni, auf der Viscontibrücke hunderte von Metern lange Tische eingedeckt, an denen rund 4.000 Gäste Platz haben. Über 600.000 der kleinen Liebesknoten, mit den verschiedensten Füllungen, sollen regelmäßig während der „Festa del nodo d’amore“ verspeist werden. Mitessen darf allerdings nur, wer eine Eintrittskarte erworben hat. Ein Platz an den Tafeln ist im In-und Ausland sehr gefragt, entsprechend schnell die die Karten, die beispielsweise über das Fremdenverkehrsamt in Valeggio sul Mincio zu beziehen sind, ausverkauft. Ob sich die Nymphe während der „Festa del nodo d’amore“ aus dem Wasser wagt um die essbare Form ihres Liebespfands zu kosten, darüber schweigt die Legende.

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