In Valcasotto reifen in antiken Kellern, auf etwas über 900 m Höhe, die Käse von Beppino Occelli. Der produziert seit 1976 Käse, im nahen Farigliano und in einer auf 1000m Höhe gelegenen Alpenkäserei. Basieren auf den lokalen Käsetraditionen dieses in der piemontesischen Provinz Cuneo gelegenen Landstrichs. Käsesorten, die entweder authentisch klassisch daher kommen, oder mit den kulinarischen Kostbarkeiten der Gegend verfeinert werden; darunter Trüffeln, Kastanienblätter und Barolo-Trester. Industrie und Großstadtleben scheinen rund um Valcasotto und seine Reifekeller Fremdworte. Wiesen, Weiden, Wälder und Wasserläufe bestimmen das Landschaftsbild.
Es wird immer bergiger. Die Autobahn, die Turin mit Savona verbindet habe ich, an der Ausfahrt Niella-Tanaro, bereits vor einiger Zeit verlassen. Jetzt schraubt sich die Straße das Flusstal hinauf. Immer dem Flusslauf des Casotto folgend. Bis in das Bergdorf Valcasotto. Es ist ein schöner Herbstmorgen. Noch hat sich der Morgennebel nicht ganz verzogen. In manchen schattigen Kurven zeigt das Autothermometer lediglich Null Grad an. Rechts und links der Straße reicht der Reif bis an den Asphalt. Wo das teils sehr enge Tal sich öffnet und den Blick auf die gegenüberliegenden bewaldeten Berghänge freigibt, zeigt sich die volle Schönheit des Herbstes. Einzelne von der Sonne angestrahlte Bäume wirken wie mit Gold besprüht. Unterhalb der Straße strudelt der Casotto um große Steine. Wäre nicht Valcasotto mein Ziel, könnte ich die Bergstraße weiter fahren, bis diese wieder hinunter führt. Ans Meer, ins Gebiet zwischen Imperia und Finale Ligure.
In Valcasotto angekommen, hat sich die Sonne endgültig gegen den Nebel durchgesetzt und die Temperatur ist bis auf fünf Grad gestiegen. Ein strahlend, blauer Himmel ist der perfekte Hintergrund für die Bergwiesen auf der einen und die im typischen Stil der Berge erbauten Häuser des Dorfes auf der anderen Seite. Sogar eine Schule gibt es hier, schießt mir durch den Kopf als ich das große, etwas höher gelegene Gebäude mit der Aufschrift Scuole entdecke. Schüler gibt es in Valcasotto allerdings schon seit langem nicht mehr, wie mir kurz darauf Danilo Ingenetti erzählt. Gerade mal rund zwanzig Einwohner sind in dem Dorf, in dem sich heutzutage fast alles um den Käse dreht, noch übriggeblieben. „Die meisten davon alleinstehend, im Alter von 70 / 80 Jahren“, präzisiert Danilo. Valcasotto hat, wie so viele italienische Dörfer, mit der Entvölkerung zu kämpfen.
Danilo und seine Frau Alessandra haben vor 20 Jahren ganz bewusst das Stadtleben in Genua hinter sich gelassen und sind in eines der Nachbardörfer von Valcasotto gezogen. In Valcasotto betreiben sie im Auftrag von Beppino Occelli einen kleinen Gasthof mit Restaurant, den Käseladen und sind für die antiken Keller zuständig, in denen die Käseköstlichkeiten reifen. Teilweise mehr als zwei Jahre lang.
Hinter einer unscheinbaren hölzernen Eingangstüre eines ganz normalen Hauses verbirgt sich der größte von insgesamt dreien dieser Keller, deren Mikroklima so ideal für die Bildung von Edelschimmel auf Käserinden ist. Dort hinein wird Alessandra Ingenetti die Besuchergruppe gleich führen. Zuvor werden Überschuhe und Mäntel aus dünner Plastikfolie verteilt. Hauben und Mundschutz aus Fließpapier vervollständigen das wenig kleidsame Outfit. Ich ziehe den Plastikmantel über die Winterjacke. Schließlich bin ich auf keiner Modenschau für Hautcouture-Kreationen und Hygiene muss sein. „Der Mundschutz ist nur für diejenigen, denen der Ammoniakgeruch, der durch den Proteinabbau während der Käsereifung entsteht, zu stechend ist“, erklärt Alessandra, bevor es in den Reifekeller geht. Und tatsächlich, unwillkürlich halte ich erst einmal die Luft an. Auf langen Holzregalen lagert in einem ersten Raum ein Käselaib neben dem anderen dem perfekten Reifegrad entgegen. Auf alle Reifekeller in Valcasotto verteilt, sind es 25.000, jeder einzelne bringt mindesten 2,5kg auf die Waage. Die Temperatur in den Reifekellern beträgt konstant neun Grad, bei einer Luftfeuchtigkeit von 99%. Wenn außen wie innen die gleiche Temperatur herrscht, werden die Kellerfenster geöffnet, damit sich die Luft austauschen kann. Heute ist es im Keller wärmer als draußen, also bleiben die Fenster zu. An den Ammoniakgeruch, der nur im ersten Raum des Reifekellers so dominant ist, hat sich meine Nase sowieso bereits gewöhnt.
Das Besondere in Valcasotto ist, dass die langen Regalbretter, auf denen die Käselaibe reifen aus dem Holz verschiedener Obstbäume gefertigt wurden. Das Apfel-, Birnen-, oder Kirschenholzaroma dringt in die Käselaibe ein und verleiht diesen einen unverkennbaren Geschmack. Welche Käsesorte am Ende gefertigt werden soll, entscheidet darüber, wie lange die Laibe in den Reifekellern verbleiben; von einem Kellerraum in den anderen verlagert werden. Egal ob die Käse aus Ziegen-, Schafs- oder Kuhmilch, aus nur einer Milchsorte oder aus einer Mischung verschiedener Milchsorten sind, künstliche Käserinden gibt es bei den in Valcasotto gereiften Käselaiben nicht. Stattdessen wachsen auf der Käseoberfläche natürliche Schimmelkulturen, eine in den Reifekellern in Valcasotto heimische autochthone Mikroflora. Im ersten Monat wird jeder Käselaib von Hand dreimal wöchentlich gedreht und die Käserinde massiert. Später reicht ein wöchentliches Drehen der Käselaibe aus.
„An der Schimmelfarbe erkennen die Experten das Alter der Käse“, erklärt mir Alessandra Ingenetti. Die wechsle von Weiß, über Grau bis zu Orange. Besonders stolz ist sie auf die Käselaibe, deren Oberfläche mit einem weißen, pelzartigen Schimmel überwachsen sind. „Der sieht aus wie Katzenfell“, erklärt sie mir während sie in den langen Regalen nach besonders prächtigen Fellbüscheln sucht. Ich verkneife mir, über ein Fellknäul mit an ein Angorakatzen-Fell erinnernden, langen Haaren zu streicheln und beschränke mit stattdessen darauf, den Katzenfellkäse zu fotografieren.
Die Käsereifung in Valcasotto hat königliche Ursprünge. Eine unweit des Ortskerns gelegene, ehemalige Kartause wurde von Karl Albert, König von Sardinien-Piemont und Herzog von Savoyen, 1837 gekauft, als Jagdschloss und Sommerresidenz ausgebaut und später an den Sohn Viktor Emanuel II. weitergegeben. Anlässlich eines Königsbesuchs kam der in den Kellern gereifte Käse erstmals in Umlauf. Könige verbringen die Sommertage heute zwar nicht mehr in Valcasotto mehr nach Valcasotto und auch die Einwohner werden immer weniger; die traditionelle Käse reifen zu lassen aber ist geblieben, beziehungsweise wurde von Beppino Occelli vor rund 40 Jahren wiederbelebt und lockt jetzt Liebhaber guter Käse ins Dorf. Und Anhänger der Slow Food Bewegung.
In Valcasotto gewinnt die Maxime „klein, aber fein“ eine neue Bedeutung. Das verschlafene Bergdorf hat sich zu einem Zentrum in Sachen Käsekultur entwickelt. Im ersten Stock, über einem der Reifekeller, ist ein Lehrsaal der Slow Food Universität für Gastronomische Wissenschaften, die in Pollenzo beheimatet ist, untergebracht. Die ASSAI – Associazione Selezionatori, Stagionatori e Affinatori Italiani – eine nationale Vereinigung von Käsereifungs- und Käseveredlungsbetrieben hat in Valcasotto ihren Sitz. Und vor allem: Profis wie Laien können die kellergereiften Käse gleich vor Ort verkosten. Im Gasthaus von Danilo und Alessandra Ingenetti stehen nicht nur die verschiedenen Käsesorten in Rohform und als verarbeitete Varianten auf der Speisekarte, sondern auch hausgemachte Gerichte mit Zutaten aus der unmittelbaren Umgebung. „Materie prime a chilometro zero“, wie beispielsweise das Maismehl aus dem Ottofile, dem traditionellen Polentamais, erklärt mir Danilo. Das wird in Valcasotto in einer Mühle aus der napoleonischen Zeit gemahlen. Die drei Mühlsteine aus dem Jahr 1802 wurden restauriert und werden noch mittels eines originalen Mechanismus aus Eisen und Holz betrieben. Mit dem Mehl des Ottofile werden beispielsweise die Paste di Meglia gebacken, köstlich mürbe, kleine Kekse. Ein Presidio Slow Food Produkt, das im Lebensmitteladen in Valcasotto auch verkauft wird. Neben dem Käsegeschäft übrigens der einzige Laden in dem kleinen Bergdorf mit den wenigen Einwohnern und der schmackhaften Käsetradition.