Wenn Sie schon in Italien waren, wissen Sie sicher darüber Bescheid. Das Aperitivo ist für die Italiener mehr oder weniger das was der 5 Uhr Tee für die Engländer ist. Besonders in der norditalienischen Metropole Mailand (die aber seit je her mit Turin um den ersten Platz wetteifert). Das Aperitivo gehört, vor dem Abendessen, zum allgemeinen Entspannungsritual nach einem stressigen Arbeitstag.
Fragt man einen Mailänder wann das Apertivo zum gesellschaftlichen Ritual wurde, lautet die Antwort: “Seit einer gefühlten Ewigkeit”. Was irgendwie auch stimmt. Wobei der, nennen wir ihn demokratisierende Durchbruch, erst in den 80-Jahren des vorigen Jahrhunderts erfolgte. Maßgeblich beigetragen hatte dazu der Werbespruch des Likörs Ramazzotti “Milano da bere”, “Mailand zum Trinken”.
Einst war dieses früh am Abend stattfindende Ritual (aber auf keinen Fall vor 19 Uhr), eher den Mittel- und höheren Gesellschaftsschichten vorbehalten: man verabredete sich in einer Hotelbar und knabberte zum Cocktail vornehm Salzgebäck. Die jüngeren Generationen waren dafür aber nicht zu gewinnen. Zu steif, zu altbacken.
Doch gerade in Mailand, wo Mode und Design zu Hause sind, stellen sich Wenden abrupt ein. Außerdem war es diese Stadt, die Ende des 19. – Anfang des 20. Jahrhunderts, die Avantgarde Bewegung Futurismo aus der Taufe hob. Und ihre Mitglieder trafen sich in Lokalen wie das Camparino und das Savini unter der Galleria Vittorio Emanuele wo sie bei animierten Diskussionen und natürlich Cocktails schlürfend, die Zeit verbrachten.
Noch eine kurze Anmerkung zur Vergangenheit: Unter den Mailänder Klassikern steht der Campari, heute am liebsten als Campari Spritz (also zusammen mit Prosecco Wein) noch immer an erster Stelle (apropos, das Campari Museum in Sesto San Giovanni, mit der U-Bahn erreichbar, ist einen Besuch wert), eng gefolgt vom Negroni Cocktail. Letzteres wurde aber nicht in der lombardischen Metropole erfunden, sondern 1919 in Florenz, im Bar Casoni vom Grafen Camillo Negroni. Es besteht aus 1/3 Gin, 1/3 Bitter Campari, 1/3 Vermuth Rosso. Und den besten Negroni in der Stadt serviert der Bar Basso, die Grande Dame der Mailänder Cocktail Bars: sein bizarres Interieur und die großen Gläser in denen das Cocktail serviert wird, sind ein fester Bestand der Aperitivo Kultur der Stadt.
In den 90er Jahren erfand dann ein gewisser Herr Vinicio das “Aperitivo alla milanese”, das Mailänder Aperitivo: statt Salzgebäck wurden gratis schmackhafte Häppchen serviert. Die Idee dahinter war, der Kunde würde so mehr als ein Cocktail bestellen.
Der Ansatz war nicht falsch, doch als das Aperitivo zur Happy Hour mutierte geriet die Sache aus den Fugen. Auf den Tresen standen immer mehr die Reste der Panini, würflig geschnitten, die vom Mittag übriggebliebenen Pasta- und andere Gerichte. Für die Studenten war das natürlich eine mehr als willkommene Neuigkeit. Für 6-8 Euros, die das Cocktail kostete, konnte man sich immer wieder den Teller auffüllen. Und dass, sowohl Speis wie Trank von der Qualität her eher suboptimal waren, störte die wenigsten. Immerhin konnte man (und kann man weiter) so billig mit Freunden auswärts zu Abend essen.
Mittlerweile haben sich etliche Lokale wieder auf Qualität besinnt. Der Bar Basso, am Rande des Universitätsviertel Città Studi sowieso, denn hier hat man der Happy Hour Mode standhaft gefrönt. Auch zu empfehlen ist das Bèsame Mucho des Feltrinelli Buchladens im neuen Wolkenkratzerviertel Gae Aulenti: hier werden zusammen mit den Cocktails mexikanische Kleinigkeiten serviert. Zentraler gelegen, in der Nähe des Domplatzes, stößt man auf Mailands Traditionsdelikatessengeschäft Peck. Vor einigen Jahren, hat Peck angrenzend zum Geschäft, ein Bistrot eröffnet, wo man sich bei einem klassischen Aperitivo mit Salami und Käse, die Zeit bis zum Abendessen vertreiben kann. Ein Geheimtipp ist schließlich das Lokal Otto in der Chinatownstraße Via Paolo Sarpi. Die Cocktails werden von schmackhaft belegten kleinen Brotscheiben begleitet. Oft kann man hier auch einer Vorlesung oder Veranstaltung anderer Art beiwohnen.