„Für die Sizilianer ist der Ätna wie eine Mutter. Einerseits gibt sie ihren Kindern unendlich viel. Andererseits teilt sie ab und an Ohrfeigen aus“, erzählt Salvo Giammanco. Und er muss es wissen. Seiner sizilianischen Abstammung wegen und seines Berufs wegen. Als Vulkanologe am Nationalen Institut für Geophysik und Vulkanologie – INGV – in Catania überwacht und erforscht er den Ätna. Momentan gibt es einiges zu beobachten. Seit Anfang des Jahres ist Mama Vulkan bereits so manches Mal die Hand ausgerutscht: Mehrere Eruptionen mit Auswürfen von Lavafragmenten und Austritten von Lavaströmen. Ohne Zerstörung bewohnter Gebiete, aber mit Zugangsbeschränkungen für die betroffene Zone im Gipfelbereich.
Mama Vulkan. Die Gute, die im Überfluss gibt. Auf den fruchtbaren Böden ihrer Hänge gedeihen Weinstöcke, Zitrusfrüchte und Olivenbäume ebenso wie Esskastanien, Eichen, Buchen oder Birken. Eine schier unendliche Pflanzenvielfalt, von subtropisch bis subarktisch. Gleichzeitig Mama Vulkan, die Unberechenbare, die Respekt einfordert. Die in roten Explosionsfontänen heißes Gestein aus dem Erdinneren an die Oberfläche schleudert. Die zerstörerische Lavaströme ins Tal schickt.
„Wir sind sicher, dass noch eine weitere Eruption kommt, aber wir wissen noch nicht wann und in welcher Form. Der Vulkan kann seinen Aktivitätsstatus ganz kurzfristig ändern und wir wissen immer nur einige Stunden vorher was passiert“, erklärt Salvo Giammanco. Wie als Bestätigung seiner Worte zeichnen die Überwachungsinstrumente des INGV einige Tage später – Anfang Juni – sogenannte „hot spots“ im Gipfelbereich des Südostkraters und Erdbeben in Tiefen von mehr als 15 km auf. Ein Beweis dafür, dass weitere Magma aufsteigt.
Der höchste aktive Vulkan Europas brachte es im Februar 2017 am Nordostkrater auf 3329 m Höhe. Nach den aktuellen Ausbrüchen rechnen die Vulkanologen damit, dass der aktive Südostkrater durch die austretende Lava an Höhe gewonnen hat und zum höchsten Punkt des Ätnas wurde. Offizielle Messungen stehen noch aus. Eines aber ist sicher: Mama Ätna lebt und Mama Ätna fasziniert. Wer einmal hier war, möchte wieder kommen. Die Autorin eingeschlossen.
Strahlend blauer Himmel über schwarzen Lavafeldern aus denen blütenweiße Schneefelder gleißen. Bei einem ersten Besuch im Herbst 2015 begeistert der starke Farbkontrast der Vulkan-Wüste am Ausbruchskrater von 2002. Die Touristengruppe, die der Bergführer am Kraterrand entlang führt, wirkt wie eine Scherenschnitt-Karawane vor dem Himmelblau. Es ist still. Der Blick schweift ins Tal in Richtung Meer. Der Wind ist hier oben empfindlich kühl. Die Wanderer ziehen die Jackenkragen enger. Gleichzeitig kriecht von unten die Wärme des Vulkans durch die Schuhsohlen. Es braucht, bis ein nicht mehr aktiver Seitenkrater auch in tieferen Schichten erkaltet. Selbst über 15 Jahre nach dem Ausbruch dieses Seitenkraters sorgt der Berg an manchen Stellen noch für wohlig warme Füße. Und die Dampfschwaden, die aus den Erdrissen wabern, schicken kleine Dampfwölkchen aus dem Vulkaninneren an die Oberfläche.
Bei einem zweiten Besuch ist der Plan, gemeinsam mit einem der im Gipfelbereich des Ätna obligatorischen Bergführer, zum Zentralkrater zu wandern. Doch Mama Vulkan spielt nicht mit. Als die geplante Reise im Mai 2017 angetreten wird, ist die Zone um den Zentralkrater, und um den derzeit aktiven Südostkrater, wegen der letzten Ausbrüche noch tabu. Für Bergführer, für Vulkanforscher und für Touristen sowieso. Der Faszination Ätna tut dies keinen Abbruch. Über die Südflanke geht es vom Rifugio Sapienza aus per Seilbahn in Richtung Gipfel. Und in Geländebussen weiter bis die Straße endet. Spätestens jetzt wird deutlich, was es bedeutet, sich auf einem aktiven Vulkan zu befinden.
Zwei Jahre zuvor stand hier noch eine Hütte der Bergführer, die Straße führte noch ein kleines Stück weiter Richtung Zentralkrater. Jetzt hat sich dort stattdessen ein Lavastrom ergossen, der langsam erkaltet. Mit großen Hydraulikhämmern werden riesen Brocken bereits erstarrter Lava zertrümmert. Lastwagen karren von etwas weiter unterhalb feineren Lavakies herauf. Der Lavastrom hatte das letzte Straßenstück unpassierbar gemacht. Das soll nun wieder geländewagentauglich gemacht werden. Dass die Lava noch nicht vollständig erkaltet ist, zeigt sich daran, dass der frisch aufgebrachte Lavakies an einigen Stellen dunkelschwarz ist. „Das kommt durch den Dampf, der während des Erkaltungsprozesses austritt“, erklärt der Vulkanologe. Auch die Gipfelsilhouette des Südostkraters hat sich verändert. Zwischen den zwei äußeren Kegeln war bis dato ein Sattel. In diesem Jahr ist dort ein dritter Mittelkegel entstanden. Er ist für die letzten Eruptionen verantwortlich. Aus den beiden Seitenkratern steigen Rauch und Gas auf, von Wolken kaum zu unterscheiden.
Was die Autorin erwartet hätte, wäre die Wanderung zum Zentralkrater möglich gewesen, gibt es heute nur aus zweiter Hand: „Das sind fast unbeschreibliche Emotionen. Ein riesen Krater voller Gas und Dampf. Mit 400 Metern Durchmesser und teilweise mehr als 100 Metern Tiefe. Ein Farbschauspiel jenseits der Vegetationszone. Eisen färbt das Gestein rot, Schwefel macht es gelb, Kohlenstoff schwarz und Mangan beispielsweise erzeugt einen metallisch-blauen Schimmer. Wenn Du dort am Zentralkrater stehst, fühlst Du die Wärme noch stärker und machst Dir erst richtig bewusst, dass Du Dich auf einem aktiven Vulkan befindest. Das kann fast Beklemmungsgefühle auslösen“, beschreibt Salvo Giammanco die Stimmung ganz nah am Herz des Vulkans.
Doch der Ätna ist weit mehr als nur Zentralkrater. Wer hier unterwegs ist, sollte sich auch die in den erkalteten Lavaströmen gelegenen Höhlen zeigen lassen. Die „Grotta dei tre Livelli“ ist mit 1,2 Kilometern die zweitlängste und erstreckt sich über drei Ebenen. Warum der Vulkanologe neben Helmen auch auf Taschenlampen besteht, erklärt sich nach wenigen Schritten im Höhleninneren von selbst. Ein 16 Meter tiefer Schacht verbindet die Einstiegsebene mit der darunter liegenden. Ein Schritt zu weit, würde man im Dunkeln Eisenkette und Warnschild übersehen, hätte fatale Folgen. Ab hier geht es nur mit Kletterausrüstung weiter. Doch bereits im Einstiegbereich gibt es viel über den Ätna zu erfahren. Beispielsweise, dass die Querstreifen an den Höhlenwänden entstanden sind, weil auch die flüssige Lava Stein ist und während die Höhle sich bildete, die abfließende Lava an bereits erstarrter Lava rieb. Stein an Stein also. Das hat Spuren hinterlassen.
„In den Längsrissen liegt das Geheimnis der Fruchtbarkeit des Ätnas“. Der Vulkanologe zeigt auf die wie Sprünge aussehenden Risse. Sie sind entstanden, weil sich während des Erkaltungsprozesses der Lava deren Masse reduzierte. 700 Millionen Kubikmeter Regen- und Schmelzwasser jährlich dringen durch solche Risse in die Vulkanperipherie ein und werden dort gespeichert. Auch der Ginster macht sich die Längsrisse zu Nutzen. Mit seinen kräftigen Wurzeln dringt er in sie ein und sprengt sie auf. Bereitet den Weg für weitere Pflanzen. Die Pflanzenwelt erobert sich mühsam zurück, was die Lavaströme zerstört haben. Der Ätna, der Berg des steten Wandels, die gute Mutter mit den schlechten Angewohnheiten. Wer einmal hier war, möchte wieder kommen, denn auch ohne Tour zum Zentralkrater gibt es unendlich viel zu entdecken.
Auch kulinarisch. Wer in Sizilien unterwegs ist, sollte sich eine Granita di Limone nicht entgehen lassen. Eine Art körniges Zitronensorbet, das aus den Zeiten stammt als die Araber in den Höhlen auf dem Ätna Schnee einlagerten. Was dort im Winter zusammengetragen wurde, brachten sie im Sommer, wenn sich der Schnee zu Eis verdichtet hatte, ins Tal in Richtung Catania, die unterhalb des Ätnas am Meer gelegene Stadt. Gemischt mit Zitrone und Zucker wurde aus dem Eis vom Ätna die Granita. Zusammen mit Brioche ein typisches Frühstück in Catania.